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Comeback einer "alten Dame"
Die Tapete wird wieder gesellschaftsfähig. Sie taucht in Anzeigen und Szene-Bars auf, avanciert mit den "Superstars" zum Kultobjekt und feiert innerhalb weniger Wochen ein "Comeback als echtes Designerstück" in der "Welt am Sonntag". Die Renaissance des Dekors ist Realität.
Sandra Winkler schrieb in der "Welt am Sonntag": "Nach Jahren der Verbannung kehrt die Tapete in die Wohnzimmer zurück - als echtes Designerstück." Zum Glück stünde bei den meisten noch der Tapeziertisch im Keller, denn jetzt würde er wieder gebraucht: "Nach zwanzig Jahren Putz und schlichter Raufaser tragen die Wände wieder Muster. Auf der Frankfurter Lifestyle-Messe Tendence stellten Nachwuchs-Designer avantgardistische Tapeten-Interpretationen aus und forderten und "New Walls, please". Selbst die Foto-Tapete, Inbegriff des schlechten Geschmacks, erlebe als "Single-Tapete" ihre Renaissance ("damit man sich nicht so allein fühlt").
"Ein neues Wanddekor kann einer Wohnung ein komplett neues Flair geben"
"Die Leute haben eben lange genug auf weiße Wände geschaut. Endlich ist die Tapete wieder dabei, sich von ihrem spießigen, bürgerlichen Image zu befreien", zitiert die Autorin VDT-Geschäftsführer Klaus Kunkel. Rasch- Chefdesigner Bernhard Holzapfel sah gegenüber Winkler in der neuen Farbigkeit gar eine Rebellion gegen die Eltern, die seit zwei Jahrzehnten "wie in Galerien leben". Endlich sei der Protest und die Abgrenzung der Jungen da: "Schließlich haben unsere Eltern uns die Tapete genommen".
"Angst vor der Tapete" findet Holzapfel völlig unbegründet. "Ein neues Wanddekor kann einer Wohnung ein komplett neues Flair geben".
Auch Uwe Eckert vom Hamburger Tapetenkeller wurde von Winkler befragt. Er ist ebenfalls davon überzeugt, dass "die Zeiten langweiliger Farblosigkeit endgültig vorbei sind". Dazu beigetragen hätten Filmausstatter, Bühnenbildner und Fotografen, die seine auffälligen Retro-Tapeten als Dekoration in TV-Serien wie "Großstadtrevier", am Hamburger Thalia-Theater oder bei Mode-Shootings benutzt haben. Inzwischen frage auch Otto Normalverbraucher bei Eckert wieder nach den alten Tapeten.
Gefragt sind ausgefallene, innovative Dekore
Damit keine Missverständnisse aufkommen: In dem Artikel ist nicht die Rede von den marktüblichen, konsumigen Schaum- oder Papiertapeten, wie man sie in jedem Baumarkt findet. Gefragt sind vielmehr ausgefallene, innovative Dekore, mit denen auch kein ganzes Zimmer mehr tapeziert wird, sondern nur noch eine Wand als Blickfang.
Winkler nennt in ihrem Artikel auch außer Eckert noch weitere Bezugsquellen; etwa die beiden Designerinnen Debo-rah Bownes und Rachel Kelly. Die eine lasse Kleiderhaken aus der 3 D-Tapete ragen und lege aufklebbare Namensschilder bei, die andere bringe selbst fotografierte Bilder vom letzten Asien-Trip als Fototapete an die Wand. Die Arbeiten der beiden werden schon im Museum ausgestellt, berichtet die Autorin, der britische Observer schwärme von "neuen Sphären der Tapetengestaltung".
"Eine neue Tapete ist wie ein neues Leben"
Aber auch in Deutschland entdeckten Kreative die Tapete als neue Spielwiese. Zum Beispiel die Industrie-Designerin Andrea Pößnicker, die mit Musterhaus eine eigene Kollektion mit handgedruckten, "kühl-eleganten" Dessins aufgelegt hat. Kostenpunkt: 25 bis 30 EUR pro Laufmeter.
Die Grafikdesigner Kathrin Kreitmeyer und Matthias Gerber bieten unter dem Namen Extratapete meist grafische, bunte Muster an, die sich bei unterschiedlichen Blickwinkeln verändern. Aram Radomski von Berlintapete schließlich fertigt per Digitaldruck individuelle Tapeten für 7 bis 10 EUR pro Meter.
Aber auch die deutsche Tapetenindustrie hat durchaus erkannt, wohin die Reise bei Tapeten geht und trendige Karten im 60er oder 70er Jahre-Look aufgelegt. Denn - das ist der Schluss-Satz von Sandra Winklers Tapeten-Plädoyer: "Eine neue Tapete ist wie ein neues Leben".
Was erzählen die neuen Tapeten über unsere Zeit?
Weniger volksnah, mehr akademisch befasst sich Niklas Maak in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" unter dem Titel "Ornament und Versprechen" damit, was die "neuen Tapeten, Muster und Schnörkel in Kunst und Architektur über unsere Zeit erzählen".
Aufhänger seiner Betrachtung ist eine junge Künstlerin, die einen Preis für eine Papiertapete erhält - Elke Haarer mit ihrem Tapetenkunstwerk Giverny. "Was ist passiert?" fragt Maak. Auf den Wänden sprössen plötzlich wieder Muster und Ornamente, als hätte es den großen Ornamentfeind Adolf Loos Anfang des 20. Jahrhunderts nie gegeben, der Architekten dazu brachte, Ornamente durch alle Stilentwicklungen hindurch zu meiden, "als seien sie Teufelswerk".
Man habe der "Neuen Einfachheit" Platz gemacht, die "strenger, blutleerer und vor allem luxuriöser" als Loos es je gewollt hätte, den "Kult formaler Reinheit zelebrierte".
Vielleicht sei es diese überfeinerte Reinheitsvision, die seit einiger Zeit in Kunst und Architektur erstaunliche Reaktionen provoziere, sinniert der Autor: "Künstler tauchen auf, die mit dem Verpöntesten schlechthin, mit Tapeten und Fassadenschmuck, nicht mehr ironisch, sondern ganz ernsthaft spielen".
Spiel mit Dekor als Abwehrreaktion auf Reduktionismus
Zum Beispiel Tapeten: Sie seien schon immer die "hässlichen Schwestern des Kunsthandwerks" gewesen. "Letzlich war das Fresko die letzte Form der Wandgestaltung, die es mit dem Tafelbild aufnehmen konnte; die Dekortapete war ihr kleinbürgerlicher Nachfolger, eine industriell hergestellte, billige Schwundstufe der künstlerischen Wanddekoration." Papiertapeten, ob sie nun "abstrakte Kunst nachäfften oder rotglühende Sonnenuntergänge abbildeten", seien immer "Zeugnisse uneingestandener Sehnsüchte nach etwas Besserem, nach den seidenbespannten Wänden der Paläste, nach geografisch und kulturell unerreichbaren Zielen gewesen". Nur eine "kleine Stilavantgarde" habe Anfang der 90er Jahre Gefallen gefunden an den schrillen Tapeten der frühen Siebziger.
Das neue Spiel mit Dekor sieht Maak als "Abwehrreaktion" auf jeden Reduktionismus, der zehn Jahre lang Architektur und Design bestimmt habe. Mittlerweile sei die Allergie gegen den Kitsch des Ornaments selbst kitschig geworden: "Der Versuch, alles noch reiner und weißer erscheinen zu lassen, erfordert von Designern und Architekten Verrenkungen, die selbst enorm schnörkelig sind."
Den architektonischen Minimalismus der 90er kanzelt Maak als "Leerlauf der Moderne" ab. "Alles musste rein, pur sein; die Ästhetik der 90er war so kaltweiß und blutarm, so dürr und überbelichtet, dass sie über kurz oder lang unsichtbar werden musste."
In dieses "Nichts der Selbstauflösung" stößt laut Maak "die Renaissance des Dekors...."